Am Schluss des Buches Jona steht die offene Frage nach dem innersten Wesen Gottes. Ist Gott nicht nur gerecht und barmherzig, sondern darf er auch Mitleid empfinden? Um eine Antwort geben zu können, liegen vor dem Leser und der Leserin nicht, wie es in einem Prophetenbuch zu erwarten wäre, eine Sammlung verschiedener Sprüche oder prophetischer Texte, sondern es wird die lehrhafte Geschichte erzählt, wie Jona vor Gott flieht und an ihm verzweifelt.
Bereits der Name des Propheten deutet vielleicht die hinter dem Buch stehende Problematik an. Er wird am Anfang des Buches als „Jona, Sohn des Amittais“ vorgestellt. Jona (Hebräisch: יונה) bedeutet „Taube“ und ebenso wie dieser Vogel ist auch Jona ein Bote. In der Sintflutgeschichte ist die Taube der Bote der bevorstehenden Rettung und erneuten Zuwendung Gottes. Jona soll jedoch keine Rettung verkünden, sondern im Auftrag Gottes nach Ninive gehen und dieser Stadt ihren bevorstehenden Untergang ankündigen. Auch der Name Jonas Vater ist ein sogenannter sprechender Name und bedeutet: Wahrheit, Treue oder Zuverlässigkeit JHWHs. Die Beständigkeit des Urteils Gottes wird durch Jona jedoch hinterfragt. Anstatt seinem Auftrag nachzukommen, ergreift er lieber direkt am Anfang des Buches die Flucht vor Gott.
Der Name des Propheten ist mehr als nur eine Anspielung, sondern ein Verweis auf einen aus den Königebüchern bekannten Propheten (siehe 2 Könige 14,25). Jona, der Sohn des Amittais, hatte König Jerobeam II (787-747 v. Chr.) die Rückeroberung zuvor verlorener israelitischer Gebiete als Gnadenakt Gottes aufgrund des Elends Israels angekündigt, obwohl der König sich gegen Gott versündigte. Am Ende des Buches Jona ist es eben diese Art der Gnade Gottes, nun gegenüber einem fremden Volk, die der Prophet nicht verstehen kann. Für die Leserschaft ist zudem Ninive als Empfänger der Gnade Gottes nicht nur überraschend, sondern verwunderlich. In der Lebenszeit Jerobeams II war Ninive Teil des Assyrerreiches, das später 722 v. Chr. das Nordreich Israel vernichtete und dessen Hauptstadt es 701 v. Chr. wurde. Dem Buch Jona geht es aber nicht um eine historische Einordnung der Erzählung. Weder wird, wie bei anderen Propheten, im Buchtitel die Zeit seines Wirkens datiert, noch wird der König Ninives namentlich genannt. Es geht um die theologische Aussage des Buches – in den Worten Jonas an Gott: „denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen.“ (Jona 4,2).
Mit diesen Worten begründet Jona im Nachhinein seine Flucht vor Gott, die in der ersten Hälfte des Buches geschildert wird (Jona 1-2). Anstatt Ninive den Untergang zu verkünden, versucht er auf einem Schiff nach Tarschisch zu fliehen. Die Chronikbücher berichten, dass eine Schifffahrt nach Tarschisch und zurück drei Jahre dauerte (2 Chronik 9,21). Aber vor Gott gibt es selbst in der Ferne kein Entrinnen. Auf dem Schiff ist Jona umgeben von Matrosen aus verschiedenen Ländern, die eine Weltgesellschaft im Kleinen darstellen. Allesamt bedroht Gott mit einem Sturm, um Jona zur Umkehr zu zwingen. Vor ihnen spricht Jona ein Bekenntnis zu seinem Gott als Schöpfer der Welt aus, das diese zur Anerkenntnis der Macht seines Gottes führt. Er ist jedoch bereit zu sterben und lässt sich ins Meer werfen. Als Gott ihn durch einen großen Fisch rettet, dankt er Gott in einem Psalm. Die zweite Hälfte des Buches stellt dazu jedoch einen deutlichen Kontrast dar (Jona 3-4). Nun kommt Jona seinem Auftrag nach, den Gott nochmals wiederholt: „Mach dich auf den Weg und geh nach Ninive, der großen Stadt, und rufe ihr all das zu, was ich dir sage.“ (Jona 3,1) – und am Ende will Jona lieber sterben als damit leben zu müssen, dass Gott trotz der angekündigten Zerstörung die Stadt Ninive verschont.
Der einzige prophetische Spruch im Buch Jona lautet: „Noch vierzig Tage und Ninive ist zerstört!“ (Jona 3,4). Diese Worte verkündet er den Bewohnern Ninives. Doch für den Leser und die Leserin zeigt sich schon in diesen Unheilsworten ein doppelter Boden. Das hebräische Wort, das in der Einheitsübersetzung mit „zerstört“ wiedergeben ist, kann nämlich auch anders übersetzt werden: „Noch 40 Tage und Ninive wird verwandelt sein.“ Die Zerstörungsdrohung zielt auf eine grundlegende Veränderung. Ninive verändert sich. Der König samt seinem ganzen Volk und selbst die Tiere wenden sich dem Gott zu, der ihnen Unheil androht und „[d]a reute Gott das Unheil, das er ihnen angedroht hatte, und er tat es nicht“. (Jona 3,10). So wie der Mensch sich wandeln und Gott auch im positiven Sinn überraschen kann, so ist auch Gott menschlicher, als manch ein verkrustetes Gottesbild nahelegt. Für Jona ist die Stadt Ninive ein hoffnungsloser Fall, der die Vernichtung verdient hat – aber für Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Daher war er vor Gott geflohen, da er wusste, dass ein Prophet – zumindest gemäß dem zugrundeliegenden Verständnis der Bücher Deuteronomium und Jeremia – keine unumkehrbare Zukunft vorhersagt, sondern durch die Drohung eine Möglichkeit zur Umkehr gibt (siehe Jeremia 18,7-8).
Das Buch Jona erklärt auch, warum es denkbar ist, dass Gott Reue und Mitleid empfindet. Im letzten Kapitel flieht Jona wieder vor Gott. Nachdem er seine Anklage gegen Gott und sein Handeln erhoben hat, verlässt er voll Zorn auf Gott die Stadt und hofft dennoch auf deren Zerstörung. Aber trotz seines Zorns kümmert sich Gott fürsorglich um Jona. Er lässt eine Rhizinusstaude wachsen, die Jona Schatten spendet. An ihr hat Jona große Freude, die seinen großen Zorn vertreibt. In dieser Situation lässt er Jona das göttliche Gerichtshandeln spüren. Er lässt durch einen Wurm die Staude eingehen, einen warmen Ostwind aufkommen und die Sonne ihm den Kopf versengen. Auch darauf reagiert Jona mit Zorn, auf den Gott antwortet, indem er ihm erklärt, was Mitleid ist: „Du hast Mitleid mit einem Rizinusstrauch, für den du nicht gearbeitet und den du nicht großgezogen hast. Über Nacht war er da, über Nacht ist er eingegangen. Soll ich da nicht Mitleid haben mit Ninive, der großen Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die zwischen rechts und links nicht unterscheiden können – und außerdem so viel Vieh?“ (Jona 4,10-11). Mit dieser Frage endet das Buch Jona. Gott deutet Jonas Zorn als Mitleid mit sich selbst, der ihm die Einsicht versperrt. Jona hatte auf dem Schiff bekannt, dass er „den Gott des Himmels, der das Meer und das Festland gemacht hat“ verehrt (Jona 1,9). Er erfährt ihn als allmächtig über den Sturm auf dem Meer, den großen Fisch, die Rhizinusstaude, den Wurm und den Ostwind, aber er versteht nicht, warum dieser Gott Mitleid mit allen seinen Geschöpfen hat. Die Frage am Ende des Buches fordert den Leser und die Leserin dazu auf, zu erkennen, „dass der Gott Israels, als der Schöpfergott ein Gott der Gnade ist, der als Gott des Rechts zur Umkehr bewegt und sich darin als Gott der Vergebung und des Strafverzichts erweist – weil er ein Gott der grenzenlose Liebe zu allem Lebendigen ist“, wie es Erich Zenger formuliert.
Deutlich wird durch diese Aussage auch eine nationalistische Tendenz verneint. Israels Erwählung dient dementsprechend dazu, die Völker zur Erkenntnis Gottes zu führen. Durch Jona opfern die Matrosen dem Gott Israels und die Bewohner Ninives kehren zu Gott um. In der christlichen Auslegungsgeschichte verstand man den Propheten Jona hingegen antijudaistisch oft als Urbild eines Judentums, das sich weigere, das Heil mit den Völker zu teilen. Im Neuen Testament werden gar die Bewohner Ninives als Richter über die jüdischen Zeitgenossen Jesu aufgerufen. Jesus hebt hervor, dass sie sich aufgrund seiner Verkündigung ihm nicht anschlossen, während die Bewohner Ninives nur aufgrund eines Wortes des Propheten sich zu Gott bekehrten (Matthäus 12,41). Im heutigen Judentum wird das Buch Jona am Großen Versöhnungstag, genannt Jom Kippur, gelesen. Die Umkehr Jonas in der ersten Hälfte des Buches und die Umkehr der Bewohner Ninives in der zweiten Hälfte des Buches dienen so als Vorbilder für die geforderte eigene Umkehr der Leser und Leserinnen. Allen Menschen ist durch Gott die Möglichkeit eröffnet, durch eine radikale Umkehr ihn vielleicht zu einem Sinneswandel zu bewegen – weil es denkbar ist, dass seine Drohungen ihn reuen (Jona 4,2).