In den USA herrscht ein Kulturkampf um das Recht auf Abtreibung. Das Oberste US-Gericht hat ein fast 50 Jahre lang geltendes Grundsatzurteil revidiert: 1973 führte die Entscheidung im Fall „Roe vs. Wade“ dazu, dass in den gesamten USA Schwangerschaftsabbrüche bis zur 24. Schwangerschaftswoche legal wurden. Nun gilt jedoch: „Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung", so steht es in der Urteilsbegründung; das bedeutet, dass die Entscheidungshoheit fortan eigentlich bei den Bundesstaaten liegt, und dies würde dazu führen, dass vor allem in konservativ-republikanisch ausgerichteten Staaten strengere Gesetze in Geltung kommen: zum Beispiel das Verbot von Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche in Texas oder das sogenannte „Herzschlag-Gesetz“ in Oklahoma, das eine Abtreibung verbietet, sobald ein Herzschlag hörbar ist.
Als Reaktion auf das neue Grundsatzurteil des Obersten US-Gerichts hat Präsident Joe Biden eine Exekutivverordnung erlassen, mit der er versucht, die neue Gesetzeshoheit der Bundesstaaten betreffs Abtreibungen einzuschränken. Der Erlass soll dazu führen, dass der Zugang zu Verhütungsmitteln und medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen sichergestellt werde. Der US-amerikanische Erzbischof William Lori, der Vorsitzende des Pro-Life-Ausschusses der US-Bischofskonferenz, verurteilte diese Exekutivverordnung mit deutlichen Worten, da sie darauf ziele „die Zerstörung von wehrlosen Menschen zu erleichtern“. Die katholische Position zum Recht auf Abtreibung ist eindeutig: „Das menschliche Leben ist vom Augenblick der Empfängnis an absolut zu achten und zu schützen. Schon im ersten Augenblick seines Daseins sind dem menschlichen Wesen die Rechte der Person zuzuerkennen, darunter das unverletzliche Recht jedes unschuldigen Wesens auf das Leben“ (Katechismus der Katholischen Kirche, 2270). Der Katechismus der Katholischen Kirche unterstreicht diese Lehre durch Verweise auf zwei Bibelstellen: Jeremia 1,5 und Psalm 139,15 (siehe dazu weiter unten).
Die Auseinandersetzungen um das Recht auf Abtreibung sind weder ein rein US-amerikanisches Phänomen noch ein Problem der Moderne. Bereits aus dem 12. Jahrhundert v. Chr. ist ein mittelassyrisches Gesetz mit einer drakonischen Strafe überliefert und dessen Formulierung darauf hinweist, dass es illegale Abtreibungen gab und wie strikt dagegen vorgegangen wurde: „Wenn eine Frau aus eigenem Antrieb ihre Leibesfrucht verliert, man es ihr beweist und sie überführt, so soll man sie pfählen und sie nicht begraben. Wenn sie bei der Fehlgeburt stirbt, so soll man sie pfählen und sie nicht begraben.“ Ganz anders klingen da die Überlegungen des Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.): „Hinsichtlich der Menge der Kinder verbietet zwar die Ordnung der Sitten, eines der Kinder auszusetzen, trotzdem muss die Erzeugung der Kinder hinsichtlich ihrer Zahl begrenzt werden, und wenn ein Paar miteinander schläft und über diese Grenze hinaus ein Kind bekommt, dann muss man es abtreiben, ehe es über Wahrnehmung und Leben verfügt.“
Das entstehende Leben
Weder das Alte noch das Neue Testament beinhalten ein Abtreibungsverbot. Doch an einigen Stellen klingt die Bibel eher naturwissenschaftlich als theologisch und die Autoren zeigen uns, wie sie über die Entstehung des Lebens im Mutterleib gedacht haben. So steht zum Beispiel im Buch der Weisheit:
„Im Schoß der Mutter wurde ich zu Fleisch geformt, in zehn Monaten in Blut verfestigt / aus dem Samen eines Mannes nach lustvollem Beischlaf.“ (Weisheit 7,1b-2).
In der Medizin wurde die Eizelle erst 1827 entdeckt. Für das Buch der Weisheit sind es neben dem Samen des Mannes das (Menstruations-)Blut der Frau und die Lust des Beischlafs, die dazuführen das ein Kind entsteht. Im Buch Ijob wird die Menschwerdung analog zur Milchfermentation verstanden; der Fötus entstehe wie ein Butter- oder Käseballen:
„Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und Sehnen mich durchflochten.“ (Ijob 10,10-11)
An anderen Bibelstellen wird deutlich, dass Frauen und Männern bei der Zeugung gleichwertige Rollen zukommen: Kinder werden sowohl als Frucht des väterlichen (Micha 6,7) wie des mütterlichen Leibes (Genesis 30,2 und Lukas 1,42) verstanden. Besonders auffallend ist, dass das hebräische Wort für „Kind“ ילד (gesprochen: jeled) direkt mit den hebräischen Worten für das „Zeugen“ durch den Mann, für das „Gebären“ durch die Frau und das „Geborenwerden“ der Kinder zusammenhängt – dies wird in einem kurzen, ein Gotteswort einleitenden Vers des Buches Jeremia sehr deutlich:
„Denn so spricht der Herr über die Söhne und Töchter, die an diesem Ort geboren werden [הילודים, gesprochen: hajjillodim], über ihre Mütter, die sie gebären [הילדות, gesprochen hajjillodot], und über ihre Väter, die sie zeugen [המולדים, gesprochen hammolidim] in diesem Land:…“ (Jeremia 16,3)
Hier zeigt sich, dass der Beginn des Lebens als ein Prozess zu verstehen ist, in dem Vater, Mutter und Kind in enger Gemeinschaft zusammenhängend gesehen werden. Die Phase von der Zeugung bis zur Geburt bildet ein Ganzes. Aber vielleicht unterscheide ein Gesetzestext im Buch Exodus zwischen zwei Phasen der Entstehung des Kindes im Mutterleib.
Ungeformt und Geformt
„Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau treffen, sodass ihre Kinder abgehen, ohne dass ein weiterer Schaden entsteht, dann muss der Täter eine Buße zahlen, die ihm der Ehemann der Frau auferlegt; er muss die Zahlung nach dem Urteil von Schiedsrichtern leisten. Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, ….“ (Exodus 21,22-23)
Der hier aufgezeigte Rechtsfall ist nur skizzenhaft beschrieben und die Deutung umstritten: Es geht um eine Verletzung, die einer Schwangeren als unbeteiligte Dritte durch zwei sich handgreiflich streitenden Männer unbeabsichtigt zugefügt wird. Die Verletzung der schwangeren Frau führt dazu – so der hebräische Originaltext –, dass „ihre Kinder hinausgehen“. Im Folgenden unterscheidet der Text zwischen einem Fall, in dem „kein weiterer Schaden“ entsteht, und einem Fall, in dem „weiterer Schaden“ entsteht. Im hebräischen Text ist es offen, was für ein „Schaden“ gemeint ist. Vielleicht ist der Text auf dem Hintergrund eines Gesetzes des hethitischen Königs Hammurapi (1810-1750 v. Chr.), der über weite Teile Mesopotamien herrschte, zu verstehen. Im sogenannten Codex Hammurapi steht in § 109-110: „Wenn ein Bürger eine Tochter eines Bürgers schlägt und bei ihr eine Fehlgeburt verursacht, so soll er zehn Scheqel Silber für ihre Leibesfrucht zahlen. Wenn diese Frau stirbt, so soll man ihm eine Tochter töten.“ Die Verursachung der Fehlgeburt führt demgemäß zu einer Strafzahlung, während der daraus resultierende Tod der werdenden Mutter als Mord betrachtet wird und entsprechend dem Talionsprinzip vergolten wird.
Der Übersetzer, der Exodus 21,22-23 ins antike Griechische übertragen hat, ist sehr frei mit dem hebräischen Text umgegangen, und hat ihn durch seine eigene Interpretation vereindeutigt. In der griechischen Übersetzung des Textes, der Septuaginta, wurde die Unterscheidung der verschiedenen „Schäden“ direkt auf die Kinder bezogen: Im Falle, dass es sich um ein noch nicht „ausgebildet/geformtes“ Kind handelt, muss der Verursacher eine Strafe zahlen. Falls es sich um ein „ausgebildetes“, das heißt wohl „als Mensch erkenntliches“ Kind handelt, dass durch den Vorfall stirbt, dann handelt es sich um ein Tötungsdelikt und es gilt: „Leben für Leben“. Eine ähnliche Unterscheidung, wie in der griechischen Übersetzung von Exodus 21,22-23 findet sich auch in einem hethitischen Gesetz. Dort entscheidet sich die Höhe der auferlegten Geldstrafe nach dem Zeitpunkt während der Schwangerschaft: „Wenn jemand einer freien Frau die Leibesfrucht abstößt, gibt er, wenn es der 10. Monat ist, 10 Scheqel Silber. Wenn es der 5. Monat ist, gibt er 5 Minen Silber.“ Da die hethitische Gewichtseinheit „Mine“ aus 40 Scheqel bestand, wird hier hingegen deutlich, dass unterschieden wird zwischen den Überlebenschancen des im Mutterleib heranwachsenden Fötus. Besonderer Schutz gilt hier dem nicht von selbst lebensfähigem Fötus.
Von Anfang an
Aus der Perspektive der beiden im Katechismus der Katholischen Kirchen angegebenen Bibelstellen zur Begründung des Anrechtes auf Schutz für ein mit der Empfängnis beginnenden Lebens, ist eine solche Unterscheidung wie sie im hethitischen Gesetz oder in der antiken, griechischen Übersetzung von Exodus 21,22-23 gegeben ist, nicht denkbar. Der Beter in Psalm 139 bekennt:
„Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen.“ (Psalm 139,16a).
Rückblickend erkennt der Psalmist, dass er vom Anfang seiner Existenz an, bereits als „ungeformter Mensch“ von Gott behütet wurde. Und Gott offenbart dem Propheten Jeremia, dass er dazu geschaffen wurde, gesendet zu werden und Gottes Wort zu verkünden – und dies noch bevor er im Mutterleib Gestalt annahm:
„Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt.“ (Jeremia 1,5)
Aber bei der Lektüre muss man vorsichtig sein: Es geht hier um keine biologische, sondern um eine theologische Aussage. Biologisch betrachtet könnte man fragen: Was bedeutet das Geformt-Werden? Beginnt es mit der Befruchtung der Eizelle? Beginnt es mit der Embryonalphase ab der 5. Woche, wenn der Kopf und der Rumpf sich entwickelt, wenn das Herz das erste Mal schlägt? Biblisch geht es um eine andere Aussage: Dem Menschen kommt seine Würde nicht durch eine vorherige Leistung zu. Der Mensch entsteht dem Schöpfer als ein Gegenüber. Der einzelne Mensch ist von Gott gewollt und durch die Schöpfung des einzelnen Menschen erkennt und anerkennt Gott sein Geschöpf. So kann der Beter in Psalm 139,15 beten:
„Dir waren meine Glieder nicht verborgen, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde.“ (Psalm 139,15)
Ebenso wie in Jeremia 1,5 wird auch hier, in Psalm 139, ausgesagt, dass Gott bereits zum entstehenden Menschen in enger Beziehung steht. Der Beter erkennt, dass er selbst, bevor er überhaupt ein selbsthandelndes Wesen geworden ist, bereits durch die Beziehung zu Gott seine Würde erhalten hat. Gemäß dem Psalm besteht die Beziehung Gottes zum Menschen sogar schon lange vor der eigentlichen Entstehung des Embryos und Fötus im Mutterleib.
Kurzum: Die Bibel kennt kein Abtreibungsverbot und erzählt von keiner gewollten Abtreibung. Die biblischen und altorientalischen Gesetze sehen im Mutterleib heranwachsenden Leben ein Gut, zu dem Gott – gemäß Jeremia 1,5 und Psalm 139,15 - von Anfang an in Beziehung steht und diesem zukünftigen Menschen damit seine Würde verleiht. Und es gibt eine große, zu bedauernde Leerstelle in der Bibel: Die Lebenssituation der schwangeren Frau, ihre Nöte und Sorgen, die zu einer Abtreibung führen können, spielen wie im gesamten Alten Orient und oft bis heute keine Rolle.
Die Meinung des Autors spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktionsleitung von In Principio wieder.
Titelbild: "Medecine Echographie", Aoineko. Lizenz: CC BY-SA 3.0.