Jeder vierte Erwachsene in Deutschland fühlt sich einsam. Zwar gilt Einsamkeit nicht als Krankheit, aber der durch sie ausgelöste soziale Stress macht krank. Anhaltende Einsamkeit führt zu einem erhöhten Sterberisiko. Statistisch betrachtet ist sie gefährlicher als Übergewicht oder Nikotinkonsum. Vor allem an Feiertagen leiden Menschen besonders unter ihrer Einsamkeit – auch wenn die Realität der Einsamkeit in unseren Gesellschaften nicht besiegt ist, so bietet das Osterfest doch zumindest eine theologische Antwort, die Hoffnung schenken kann.
Jesus Christus war – so schrieb der Theologe Theodor Lohmann in einem kleinen Büchlein im Jahre 1960 – „m.E. die einsamste und zugleich tragischste Gestalt unter allen großen Heiligen der Religionsgeschichte“; und doch ist in diesem großen Vereinsamten zugleich zumindest theologisch das Ende jeder Einsamkeit grundgelegt.
Er wurde bei seinem Einzug in Jerusalem, der am Palmsonntag gefeiert wird, als Hoffnungsträger bejubelt und wenig später wurde von der Menge sein Tod gefordert. Eben noch riefen sie: „Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe!“ (Markus 11,10) – und sie hofften auf einen messianischen König. Einige Tage später fordert die Menge vom römischen Statthalter: „Kreuzige ihn!“ (Markus 15,13) - und sie machten aus Jesus einen scheinbar Verfluchten. Nicht nur die Stimmung in der Stadt kippt, auch seine Weggefährten verlassen ihn. Judas verrät ihn. Die anderen Jünger fliehen. Petrus, der zu Jesus gesagt hatte: „Und wenn ich mit dir sterben müsste - ich werde dich nie verleugnen“, verleugnet ihn in dem Moment, in dem Jesus vor dem Hohepriester sich öffentlich offenbart. Der Hohepriester hatte Jesus gefragt: „Bist Du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“, und Jesus antwortete ihm: „Ich bin es“ (Markus 14.61f.). Doch der engste Weggefährte Jesu, der Apostel, der eigentlich ein Felsen sein solle, distanziert sich zeitgleich größtmöglich: „Ich kenne diesen Menschen nicht“ (V. 71), sagt Petrus und nimmt dabei nicht einmal mehr Jesu Namen in den Mund.
Der letzte Hoffnungsschimmer menschlicher Beziehung liegt scheinbar auf den Frauen, die Jesus bereits seit seiner Zeit in Galiläa gefolgt waren. Sie lassen ihn am Kreuz nicht allein und sie wollen ihm nach seinem Tod den letzten Liebeserweis erbringen. Doch im Moment der Auferstehungsfreude, im Angesicht des leeren Grabes fliehen auch sie: „denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich“ (Markus 16,8). Am Ende ist der Gekreuzigte und Auferstandene von allen Menschen verlassen.
Die Passion Jesu wird im Markusevangelium bewusst als Weg in die Einsamkeit dargestellt. Am Kreuz ist Jesus Christus in der Einsamkeit angekommen, die gegen die Schöpfungsordnung ist: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ (Genesis 2,18). Die Menschwerdung Gottes führt Jesus in die Einsamkeit des selbst von Gott verlassenen Beters und er (er)trägt sie, indem er zu Gott ruft: „Mein Gott, mein Gott, wozu [nicht warum, TMS] hast Du mich verlassen?“ – der Ostermorgen lehrt, dass Gott Jesus nicht verlassen hat. Im Kreuz ist nicht nur der Tod besiegt, sondern auch die menschliche Einsamkeit. Dies kann auch für gläubige Christen, die unter Einsamkeit leiden ein Trost sein und einen Weg eröffnen. Gott kennt die menschliche Einsamkeit, Jesus hat sie durchlitten. Einsamkeit, wo ist dein Stachel?
Diese Grundwahrheit des Glaubens predigt Paulus der Gemeinde in Rom, wenn er ihr in dichter und poetischer Sprache schreibt: „… keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn. Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende“ (Römer 14,7-9). Menschliches Sein ist geprägt durch Beziehung und als Glaubende sind wir nicht auf uns selbst zurückgeworfen, sondern durch unsere Taufe mit Christus verbunden. Wir sind nicht verdammt zum Tod, dieser absoluten Einsamkeit. Radikal gesprochen: Wir sind von uns selbst befreit hinein in die liebende, ewige Beziehung zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn. Der Neutestamentler Heinrich Schlier schreibt in seinem Kommentar: „Dieser Herr, dem wir leben und sterben, kennt als der Gestorbene und jetzt ewig Lebendige, keine Grenze dieser Herrschaft. Sein Leben bemächtigt sich unseres Todes und schließt unser Leben in sich“ – in Jesus ist alle menschliche Einsamkeit umfangen und somit aufgehoben.
Doch ebenso wie der Tod so gehört auch die Einsamkeit nach Ostern weiterhin zu den Grunderfahrungen der Menschen. Selbst innerhalb christlicher Gemeinden vereinzeln Menschen und fühlen sich einsam. Wie kann es im Leib Christi, der die Kirche ja ist, einsame Glieder geben? Wo bleibt die christliche Antwort auf die zunehmende Vereinsamung in der Gesellschaft? Es ist nicht gut, dass der Mensch vereinsamt. Jesus ist für alle Menschen durch die absolute Einsamkeit gegangen und durch seine Beziehung zu Gott gerettet worden. Sind christliche Gemeinden Ort der Beziehung, der Rettung aus der Einsamkeit? Verkünden Christen das Ende der Einsamkeit? Retten die Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu ihre Mitmenschen aus der todbringenden Einsamkeit oder fliehen sie vor dieser Aufgabe?
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Bildquelle: "The dead Christ and three mourners", Andrea Mantegna (1470), Lizenz: gemeinfrei.